Franz Kafka hat sich in einer kleinen Reihe von Texten mit China als staatlichem Gebilde, nationalem Territorium und kultureller Ordnung beschäftigt. Im März 1917 notiert er in seinen Oktavheften drei Erzählungen, die sich vor allem um das politische System des Kaisertums in seinem Verhältnis zum Volk, um die Sicherung des Landes und die Gefahr der Fremdherrschaft drehen: Beim Bau der Chinesischen Mauer, Eine kaiserliche Botschaft und Ein altes Blatt. Mit diesen Texten vollzieht sich ein Wandel in Kafkas Werk: „Eine im vollen Sinne historisch-politische Matrix“ ersetzt die „bis dahin vorherrschende familial-soziale Matrix seiner erzählten Welten“ (Benno Wagner 2010). Im Jahre 1920 verfasst Kafka dann abermals drei Erzählungen zu China, die sich nun stärker dem Beamtenwesen, den Ritualen der Macht und den kollektiven Prozessen einer Überlieferung von Normen und Gesetzen zuwenden: Die Abweisung, Zur Frage der Gesetze und Die Truppenaushebung.
Die wenigen Analysen zu diesen Prosatexten fokussieren entweder die ästhetischen und poetologischen Aspekte oder interpretieren sie in einer symbolischer Weise, so dass China kaum als China in den Blick gerät, sondern für das Kaiserreich Österreich ebenso stehen kann wie allgemein für eine ‚prämoderne Ordnung‘. Beide Lektüreweisen sind einer Revision zu unterziehen: Sie lassen nämlich außer Acht, dass Kafka seine Erzählungen zu einer Zeit verfasst, in der im deutschsprachigen Raum die Auseinandersetzung mit China ‚boomt‘, befindet sich doch dieses Land in einer markanten Phase des politischen und kulturellen Umbruchs – des Untergangs des Kaisertums und des Aufbaus einer Republik.
Ziel der Tagung ist es deshalb, ‚Kafkas China‘ erstmals ausführlich im Kontext der zeitgenössischen Wissenschaftsstudien und Reisebeschreibungen zu erörtern, die die Umbruchssituation Chinas zu Beginn des 20. Jahrhunderts thematisieren. Durch diese kulturwissenschaftliche Perspektivierung möchte die Tagung einen neuen Zugang zu Kafkas China-Darstellungen entwickeln: Es soll herausgearbeitet werden, welche Modelle von politischer Souveränität, Konzepte des nationalen Territoriums und Konstitutionsmechanismen von Kultur in der Auseinandersetzung mit China sowohl in den historischen Kontexten als auch in den literarischen Texten entworfen werden und welche Gemeinsamkeiten wie Unterschiede sich dabei zwischen den zeitgenössischen Debatten und den Erzählungen Kafkas feststellen lassen. Ein solcher Ansatz ermöglicht es, die literarischen Texte in ihrer Spezifizität zu erfassen und ihre Aussageposition geschichtlich präzise zu bestimmen. Und ein solcher Ansatz schließt keineswegs ästhetische Fragestellungen oder strukturelle Vergleiche zur Situation des österreichischen Kaiserreichs bzw. zu einer ‚prämodernen Ordnung‘ aus – könnte doch darin eine Eigentümlichkeit von Kafkas Erzählungen liegen, dass sie die kulturelle und politische Ordnung Chinas zum einen zur poetologischen Selbstreflexion und zum anderen zur Auseinandersetzung mit Österreich bzw. zur Erörterung der gesellschaftlichen Moderne nutzen.
Für die Tagung „Kafkas China. Kulturwissenschaftliche Lektüren“ sind deshalb Beiträge gesucht, die Kafkas Erzählungen im Bezug zum historischen China-Diskurs erörtern, um so deren politischen und kulturellen Dimensionen, aber auch deren poetologischen Implikationen in ihrer Besonderheit erfassen zu können.
Die Tagung, die in einer Kooperation zwischen der Deutschen Kafka-Gesellschaft, dem Department für Germanistik und Komparatistik der Universität Erlangen-Nürnberg und dem Lehrstuhl für Sinologie der Universität Erlangen-Nürnberg ausgerichtet wird, findet vom 7. bis 9. Oktober 2016 statt.
Eine Veröffentlichung der Tagungsvorträge in der Schriftenreihe „Forschungen der Deutschen Kafka-Gesellschaft“ ist vorgesehen.
Wir möchten ausdrücklich Nachwuchswissenschaftler aus der Neueren deutschen Literaturwissenschaft, der Sinologie, der Komparatistik und den Kulturwissenschaften dazu auffordern, sich für die Tagung zu bewerben. Bewerbungen mit einem Exposé (max. 2000 Zeichen) senden Sie bitte bis zum 29.02. an:
Dr. Agnes Bidmon, Universität Erlangen-Nürnberg, agnes.bidmon@fau.de
und Prof. Dr. Harald Neumeyer, Universität Erlangen-Nürnberg, harald.neumeyer@fau.de